Samstag, 2. Oktober 2004

Im anderen Raum
Das Komische an R. und N. war, dass jeder sie für die gleiche Person hielt. Es war so ein running gag gewesen, ein Spruch, bei dem hinterher keiner mehr wusste, von wem er kam, der sich verselbstständigt und das Bild einer Person bei einer ganzen Gruppe entscheidend geprägt hatte. Und irgendwann hatte eben jemand gesagt, dass R. und N. bestimmt ein und dieselbe Person seien. Natürlich war das nicht völlig aus der Luft gegriffen. Am Anfang hatten zwar alle noch über die Vorstellung gelacht, doch dann fanden sich erstaunlich viele Argumente, die diese absurde These unterstützten. In der Tat hatte noch nie jemand R. und N. zugleich im selben Raum gesehen, was natürlich schon merkwürdig war. Und allen war aufgefallen, dass R.s Züge etwas maskenhaftes hatten und N.s Haare merkwürdig künstlich aussahen. Man beschloss jedoch, R. oder N. besser nicht darauf anzusprechen. Gegenüber potentiell Durchgeknallten sollte man lieber vorsichtig sein. Und so erfuhren R. und N. zunächst nichts davon, dass man sie für den selben Verrückten hielt.

Das änderte sich erst, als Lisl (die übrigens von allen für die Reinkarnation Hitlers gehalten wurde, immerhin kam sie ja aus Österreich) R. zum Test fragte, wie es denn N. so gehe. „Das weiß ich doch nicht. Mit dem rede ich schon lange nicht mehr.“ antwortete R. unwirsch. Später fragte Lisl dann N., was er denn mache, damit seine Haare so schön würden, woraufhin dieser heulend aus dem Raum rannte. In den nächsten Tagen wurden weder R. noch N. irgendwo gesichtet. Lisl sah sie dann irgendwann in einer Schwulenpaar wild herumknutschen. Nachdem sie die beiden angesprochen hatte, erfuhr sie, dass R. und N. schon vor einer Weile ein Paar gewesen waren, sich jedoch getrennt hatten, als R. einen merkwürdigen Unfall verschuldet hatte, bei dem N. all seine Haare verloren hatte und zudem seine Kopfhaut beschädigt worden war. Lisl erzählte natürlich allen sofort die Wahrheit. Paul (der übrigens von allen für die Preinkarnation des 65. amerikanischen Präsidenten gehalten wurde) meinte dazu: „Schwul? Das hätte ich nie gedacht.“

von drbierkrug um 14:37h| 0 Kommentare |kommentieren | Siehe auch: Geschichten

 



Sonntag, 19. September 2004

Erwartungshaltungsenttäuschungsirritation
Q. konnte mit Gott reden. Davon waren alle fest überzeugt. Zuviele Wunder waren in seiner Anwesenheit geschehen, als das eine andere Erklärung möglich wäre. Wo er vorbeikam, konnten die Lahmen gehen und die Blinden sehen, um es wie die Bibel auszudrücken. Außerdem war es schon passiert, dass, nachdem er seine Hand auf ein Auto gelegt hatte, es weiterfuhr, obwohl der Tank eigentlich leer war. Wie gesagt, man war sich sicher, Q. müsste mit Gott reden können. Nur er selbst glaubte nicht daran.

von drbierkrug um 11:35h| 0 Kommentare |kommentieren | Siehe auch: Geschichten

 



Sonntag, 12. September 2004

Namen sind englisch auszusprechen
Hinterher sagte Paul immer, dass er alles genau so geplant hätte. Natürlich glaubte ihm das niemand, denn was er auch tat, er wurde immer zunächst durch einen Misserfolg zurückgeschlagen. Aber Fakt war, dass am Ende immer alles gut für ihn ausging. Paul hatte viele Neider, eben weil er bei allem so viel Glück zu haben schien. Ehrlich gesagt kann ich ihn bis heute nicht leiden.

von drbierkrug um 10:52h| 0 Kommentare |kommentieren | Siehe auch: Geschichten

 



Dienstag, 31. August 2004

Verklärte Romantik
Jack versuchte immer, ein kleines Geheimnis um sich zu machen. Er wollte einfach ein bisschen interessanter erscheinen, als er in Wirklichkeit war. Dabei ging er äußerst gerissen vor: häufig machte er irritierende Andeutungen, wenn man ihn jedoch auf selbige ansprach, schwieg er sich aus und grinste. Natürlich reichte das nicht aus, um auf Dauer von einem Geheimnis umgeben zu sein. Deshalb sorgte Jack dafür, dass in seiner Umgebung und in Zusammenhang mit ihm immer wieder merkwürdige Dinge geschahen. Dies trug ihm mit der Zeit den Spitznamen "Paranormalo" ein. Aber nach einer Weile hatte sich seine Umgebung an Merkwürdiges gewöhnt und das Interesse an John ließ nach. Als John merkte, das seine geheimnisvolle Aura schwand, entschloss er sich, bei Nacht und Nebel und ohne vorher jemanden informiert zu haben, auszuwandern. Seine plötzliche Abwesenheit war dann auch tatsächlich Anlass zu großem Rätselraten und großen Sorgen bei allen, die ihn kannten.

John kehrte nie wieder zurück, da er auf seiner spontanen Weltreise am Amazonas-Delta die geheimnisvolle Sara kennenlernte und mit ihr eine Familie gründete. Wo ihre Kinder heute sind, wissen weder Sara und John noch der Rest der Welt.

von drbierkrug um 23:00h| 0 Kommentare |kommentieren | Siehe auch: Geschichten

 



Samstag, 28. August 2004

Aus meiner in 26 Jahren erscheinenden Autobiographie
"[...] Ich wohnte damals in einer 3 1/2 Zimmer Wohnung. Nicht wirklich in der Innenstadt, nicht wirklich außerhalb. Es war keine gute Phase meines Lebens, wie ich mir heute, an die Einrichtung dieser Wohnung zurückdenkend, eingestehen muss. Gelangweiltes durchblättern von IKEA-Katalogen und eine generelle Ablehnung alles "Normalen" hatte mich nach dem Abschluss des Mietvertrages dazu gebracht, allem "Praktischen" abzuschwören. Konkret hieß das: Ich kaufte meine Möbel nicht nach Aussehen und Nutzen, sondern sah eine Übersichtsliste aller IKEA-Artikel im Katalog nach lustigen Namen durch. So kam ich zu einem Schrank aus der Reihe "Holger" und allerlei anderem Krempel zum Bewohnen. Natürlich baute ich nicht alles ordnungsgemäß zusammen, ich wollte ja nicht schön/praktisch wohnen. Ein Einzelteil des Bettes, das mir verzichtbar erschien, nagelte ich an die Wand, versah es mit Farbe und betrachtete es als Kunst. Ich kaufte mir ein paar würfelförmige gepolsterte Sitzhocker und legte sie mir wo es ging in den Weg. Wollte ich von der Couch ("Ingo"), die übrigens in der Küche stand, ins Bad, musste ich immer erst einen komplizierten Slalomparcours zwischen den Hockern hindurch absolvieren. Überhaupt versuchte ich mir das Wohnen immer wieder künstlich zu erschweren, indem ich in regelmäßigen Abständen die Anordnung der Möbelstücke veränderte. Um jeden Preis wollte ich so etwas wie "Gewöhnung" verhindern. Ich ging sogar so weit, ein obskures Flachbildfernsehgerät zu erstehen, das bei jedem Einschalten die Programmreihenfolge völlig willkürlich neu erstellte (ein Fehler, der vom Hersteller als völlig unerklärlich bezeichnet wurde, mir aber sehr entgegen kam, sowohl weil er das Fernsehgerät sehr unpraktisch, als auch bei ebay sehr billig machte). So war die Sendersuche jeden Tag ein neues Vergnügen. Wie ich auf die Idee kam, den Flachbildfernseher an der Außenseite der Badezimmertür anzubringen, weiß ich nicht mehr. Doch ich erinnere mich noch, dass ich den Fernseher später beinahe wieder an einem anderen Ort angebracht hätte. An der Tür erschien er mir zunächst zu praktisch, weil man ihn so von jedem Ort im Wohnzimmer sehen konnte, wenn man denn die Tür entsprechend kippte. Ich entschloss mich letztlich aber doch, den Fernseher an der Tür zu lassen, vor allem, weil er bei Videoabenden mit Freunden immer wieder für Irritationen und Erheiterung sorgte. Wollte ein Gast nämlich während einem Film auf die Toilette, zwang er alle anderen dazu, von Couch "Ingo" auf Couch "Ekeskog" umzusiedeln (es sei denn, er war bereit, die Tür offenzulassen). Generell fand eher selten ein Videoabend bei mir statt. Überhaupt: meine Freunde reagierten nicht so begeistert auf meine Wohnung. Die meisten nannten mich "Spinner" und lachten. Meine Eltern nannten mich auch "Spinner", lachten dabei aber nicht.

War schon lustig, damals. [...]"

von drbierkrug um 20:34h| 1 Kommentar |kommentieren | Siehe auch: Geschichten

 



Montag, 16. August 2004

Gold für jemand anderen
Staub! Überall. Für Robert gab es nur zwei Möglichkeiten: Putzen oder wegrennen. Robert hasste es, auf zwei Möglichkeiten reduziert zu werden. Da fühlte er sich in seiner freien Entfaltung eingeschränkt. Als Kompromiss putzte er zuerst, dann rannte er weg. Vielleicht war es auch anders herum. Ich habe nicht aufgepasst.

von drbierkrug um 22:13h| 0 Kommentare |kommentieren | Siehe auch: Geschichten

 



Sonntag, 18. Juli 2004

Öh... Federball!
Zerstreuter Professor nach mehreren Cocktails stolpert auf Podium und hält Vortrag:

"Wenn es keine Menschen gäbe, sondern nur Schlümpfe, würden die Schlümpfe dann irgendwann eine Zeichentrickserie erfinden, in der kleine Menschen in einem Dorf aus pilzförmigen Häusern leben? Mit dieser zutiefst philosophischen Frage will ich meine heutigen Betrachtungen über zwischenmenschliche Beziehungen eröffnen. Ja, ich höre schon die Reaktionen - Antworten will ich sie nicht nennen - auf meine Frage. Dabei finden sich drei Fraktionen: Die erste geht fest davon aus, dass die Schlümpfe niemals Trickfilmfiguren von menschlicher Gestalt erfinden würden. Nie! Weil der Mensch so etwas besonderes ist, weil Gott ihn erschaffen hat, weil er ein Produkt der Evolution ist. Irgendein beliebiges Weil. Dieser Fraktion stehen als zweites diejenigen gegenüber, die tatsächlich glauben, dass die Schlümpfe irgendwann Menschen erfinden würden. Warum die Schlümpfe das tun sollten, wissen sie auch nicht, aber ihnen gefällt die Vorstellung. Getoppt werden diese beiden Fraktionen durch die dritte: die Weiß-Nicht-Fraktion. Dieser würde ich mich übrigens auch anschließen. Woher sollte ich denn auch wissen, was die Schlümpfe tun würden. Es gibt sie ja gar nicht, ich kann sie ja gar nicht fragen. Wenn ich so nachdenke, stelle ich fest, dass es eigentlich auf jede Frage Ja-, Nein- und Weiß-Nicht-Sager gibt. Da hätte es das Schlumpfbeispiel gar nicht gebraucht. Egal. Nun zu etwas ziemlich Ähnlichem: ...ach nein, das ist mir zu privat."

Zerstreuter Professor verlässt Podium, nimmt sich noch einen Cocktail und verlässt Saal. Ward an diesem Abend nicht mehr gesehen.

von drbierkrug um 20:12h| 0 Kommentare |kommentieren | Siehe auch: Geschichten

 



Freitag, 16. Juli 2004

Läbä gäht weidä
Sich etwas Zeit zu lassen, das kann ja nicht schaden, ja, das war schon immer das Lebensmotto von Dmetri. Er sah es nicht so eng mit der Zeit: "Das Läbän schenkt mirr so viele Sekunden, da darrf man rruhik verrschwenden." pflegte er immer in seinem russichen Akzent zu sagen. In der Tat war Dmetri nie zur Eile zu bewegen, selbst wenn er seinen Bus erwischen musste. Trotzdem, merkwürdigerweise, war Dmetri nie zu spät bei einer Verabredung. Ich habe nie verstanden, wie er das gemacht hat. Vermutlich hatte er eine Zeitmaschine.

von drbierkrug um 20:58h| 0 Kommentare |kommentieren | Siehe auch: Geschichten

 



Sonntag, 11. Juli 2004

Hate To Say I Told You So
Eines Morgens wachte ich auf und konnte rückwärts durch die Zeit reisen. Einfach so. Ich hatte nicht einmal darum gebeten.

Ich konnte keine langen Sprünge machen. Vielleicht zehn Sekunden, manchmal auch eine Minute. Ehrlich gesagt waren es gar keine richtigen Zeitreisen. Ich versetzte mich einfach nur in einen früheren Moment meines Lebens zurück. Nun ja, was heißt hier einfach? Schon eine tolle Sache, dachte ich mir.

Mit der Zeit wurde ich immer besser. Ich versetzte mich Tage, ganze Wochen zurück und erlebte spannende neue Varianten meines Lebenslaufes. Interessanterweise kam ich aber nie weiter zurück als eben an jenen Tag, an dem ich aufwachte und rückwärts durch die Zeit reisen konnte.

Es war wirklich eine tolle Zeit, damals. Mein Leben wurde von jedem Risiko befreit, denn mit einem Mal konnte ich keine Fehler mehr machen. Das heißt, ich konnte schon, aber es war ein leichtes, sie wieder zu beheben.

Irgendwann jedoch fing ich an, unter meiner besonderen Gabe zu leiden. Nach einer Weile war mir alles irgendwie so sinnlos erschienen. Mehr und mehr waren meine Mitmenschen zu Puppen in meinem Spiel verkommen. Mit genügend Anläufen konnte ich sie immer dazu bringen, das zu tun, was ich wollte. Unvermeidlicherweise wurde ich ein Einzelgänger, der seine Umgebung zu akzeptieren nicht im Stande war.

Als ich zu diesen Einsichten gelangt war, beschloss ich, mich nie wieder in der Zeit zurückzuversetzen. Tatsächlich habe ich es seit damals nicht mehr versucht. Ich wüsste schon gerne, ob ich es noch kann...

von drbierkrug um 18:15h| 0 Kommentare |kommentieren | Siehe auch: Geschichten

 



Samstag, 5. Juni 2004

Wem brennts?
Ein Mann und eine Frau saßen an entgegengesetzten Seiten eines Feuers auf einem Gehweg in der Innenstadt. Zuerst fielen sie niemandem auf, doch gegen Abend, als die Dunkelheit zunahm, wurden einige Passanten auf sie aufmerksam. „Warum sitzen Sie denn hier mitten auf dem Gehweg am Feuer?“ fragte eine vorbeispazierende Rentnerin. Der Mann und die Frau, die sich bisher pausenlos durch die Flammen betrachtet hatten, blickten auf, schließlich sagte einer von beiden: „Wir warten darauf, dass das Feuer herunterbrennt, damit wir zusammen sein können.“ Die Passantin war etwas irritiert: „Sie können doch einfach drum herum gehen.“ Mit einem Kopfschütteln wandten sich die beiden von ihr ab.

In einer großen und zivilisierten Stadt, wie derjenigen, in der die Frau und der Mann am Feuer saßen, musste natürlich irgendwann auch die Polizei aufmerksam werden: „Sagen Sie, was soll denn das mit dem Feuer hier?“ fragte ein „zu Hilfe“ gerufener Polizeibeamter. „Was mit dem Feuer?“ fragte der Mann zurück. Der Polizist wurde unsicher, war er doch überzeugt, dass man ihn hier „verarschen“ wollte: „Na, dass das hier brennt, mein ich. Sie können doch nicht einfach auf dem Gehweg ein Feuer entzünden.“ Mit einem leichten Schulterzucken entgegnete der Mann: „Entschuldigung, es geht nicht anders.“ Und wandte sich wieder der Frau zu. Langsam wurde es dem uniformierten Beamten zu bunt: „Hören Sie mal, was soll das heißen? Haben Sie kein Zuhause, um ein Feuer anzuzünden? Öffentliche Feuerstellen müssen beim ‚Amt’ angemeldet werden.“ Nachdem die Frau eine amtliche Genehmigung für das Feuer vorgezeigt hatte, verließ der Beamte unverrichteter Dinge „den Tatort“, jedoch nicht ohne zu beschließen, seine Frau von diesem Erlebnis ausführlich zu unterrichten.

Als der Abend schon sehr weit „fortgeschritten“ war, kam ein Betrunkener am Mann und an der Frau vorbei. „Was machtn ihr da?“ fragte er etwas unpräzise, so dass er sich über die unbefriedigende Antwort „Wir sitzen am Feuer.“ nicht zu wundern brauchte. „Das seh ich doch au’’. Ich mein wwarum sitzihr ann Feuer?“ fragte er weiter. Er erhielt die selbe Antwort, wie schon die Passantin zuvor: man warte darauf, dass das Feuer herunterbrenne, damit man beisammen sein könne. „Verstehe“, nickte der Passant, um dann weiterzufragen: „Is das so ne Meditationssache?“ Sowohl der Mann als auch die Frau schauten sich kurz fragend an und nickten dann lächelnd. „Darf ich mitmachen?“ fragte der Betrunkene, doch seine Bitte wurde mit einem Kopfschütteln zurückgewiesen. Betrunken ging der Betrunkene, der in der Tat „zu viel“ getrunken hatte, seines Weges.

„Ich hätte ja nicht gedacht, dass die zersägten Reste unseres Esstisches so lange brennen.“ sagte die Frau irgendwann in der Nacht.

Am Morgen erlosch das Feuer und der Mann und die Frau gingen in einem Bistro frühstücken.

von drbierkrug um 00:15h| 0 Kommentare |kommentieren | Siehe auch: Geschichten