Wo?
Rüdiger war stolz. Nun, da es Zeit war aus dem Leben zu scheiden, erkannte er mit Freude, dass er sein Ziel erreicht hatte. Es gab also tatsächlich keine einzige Photographie von ihm.

Es war nicht so, dass Rüdiger eine spezielle Abneigung gegen Photos gehabt hätte oder dass er sich immer weggedreht hätte, wenn jemand ihn zu photographieren versucht hatte. Der Wunsch, photographisch nicht festgehalten zu werden, hatte sich einfach irgendwann entwickelt. In jungen Jahren, als er erstmals ein Passbild für seinen Ausweis brauchte, hatte er festgestellt, dass er kein Bild von sich besaß. Er wusste nicht recht zu sagen, warum ihm dieser Zustand gefiel. Jedenfalls wollte er nichts daran ändern. Also nahm er für das Passbild das Photo eines Schauspielers, dem er, glaubte er seinen Verwandten, sehr ähnlich sah.

In den folgenden Jahren entwickelte Rüdiger seine bis heute einmalige Technik des Nicht-Photographiert-Werdens. Sie basierte vor allem auf dem Konzept der Prävention. Rüdiger konzentrierte sich vor allem darauf, potentielle Photographen gar nicht erst auf die Idee kommen zu lassen, ihn zu photographieren. Er machte sich also uninteressant. Schrecklich langweilig. Unphotographierenswert. Mit der Zeit wurde er so gut darin, dass man ihn praktisch nicht mehr wahrnahm. Nur wer absichtlich nach Rüdiger Ausschau hielt, sah ihn manchmal noch. Wer nicht nach ihm suchte, konnte ihn praktisch nicht sehen. Es war, als würde niemand in seine Richtung schauen.

Vielleicht wird der Leser, dem ich die völlige Langweiligkeit Rüdigers noch nicht richtig zu vermitteln im Stande gewesen bin, an dieser Stelle fragen, wie Rüdiger denn gestorben sei? Wahrscheinlich wird mir dieser Leser nicht glauben, dass Rüdiger im Restaurant verhungert ist, weil ihn die Bedienung nicht sah.
Sonntag, 4. April 2004, 17:00, von drbierkrug | |comment | Siehe auch: Geschichten