Nichteinstürzende Neubauten
Schon lange spiele ich ja mit dem Gedanken, über den Riss in Decke und Wand meines Zimmers zu bloggen. Bisher habe ich es immer gelassen, weil es mir zu allegorisch erschien. Außerdem nenne ich mein Zimmer nicht gerne ein Zimmer, sondern viel lieber eine Kammer. Denn "Kammer" hat etwas mittelalterlich Mysteriöses und Kammern hat ja auch das allgemein unter den Organen besonders hoch geschätzte Herz. Bei "Zimmer" denkt man dagegen immer an Hinterzimmer und damit an sogenannte krumme Geschäfte. Alles gute Gründe, von "Kammer" zu sprechen. Trotzdem nennt heute niemand mehr seinen Wohnraum eine Kammer.

Nun, wie auch immer, mein Zimmer hat also einen Riss. Er entspringt etwa in der Mitte der Decke, setzt sich bis zur Kante von Decke und Wand fort und läuft letztere dann in lustigen Zick-Zack-Linien nach dem Muster der Mauersteine hinab. An seinen dicksten Stellen misst er in der Breite etwa zwei Milimeter. Mein Großvater meint, dass es bei einer Breite von etwa einem Zentimeter gefährlich wird und ich spätestens dann von dort verschwinden sollte. Mein Großvater meint auch, dass der Riss dadurch entsteht, dass sich die entgegengesetzte Seite des Hauses absenkt. Mein Vater vermutet, dass diese Absenkung etwas mit Veränderungen im Grundwasserspiegel zu tun habe.

Ich glaube zumindest mein Großvater hat Recht. Bevor er in Rente ging, war er Maurer. Als solcher hat er auch einmal ein ganzes Haus mit einem Riss gerichtet. "Zehn Jahre", hat er damals zum Besitzer gesagt, "zehn Jahre hält es jetzt noch, dann müssen sie es wieder richten lassen. Oder es stürzt ganz ein." Auf den Tag zehn Jahre später ist das Haus tatsächlich eingestürzt. Zum Glück hielt sich zu dem Zeitpunkt niemand darin auf.

Na gut, das stimmt gar nicht. Also: Dass das Haus eingestürzt ist. Es steht heute noch und der Besitzer findet niemand, der es ihm abkaufen will. Und ob sich auf den Tag genau zehn Jahre nach der Vorhersage meines Großvaters jemand in dem Haus befand, weiß ich natürlich gar nicht. Woher auch?

Jetzt aber wieder zurück zu meinem eigenen Zimmer, dass ich viel lieber eine Kammer nennen würde. Als ich den Riss darin das erste Mal sah, es dürfte nun einige Jahre her sein, da dachte ich mir nichts dabei. Als er sich weiter über das Zimmer ausbreitete, bis an ein Ignorieren nicht mehr zu denken war, stellte ich die Möbel in meinem Zimmer um. Ich verlegte mein Bett von der Position direkt unter dem Riss in eine weniger gefährliche Ecke. Seitdem lässt sich die Tür meines Zimmers nicht mehr so weit öffnen, da sie sonst an die Fußkante des Bettes stößt. Stattdessen steht nun der Kleiderschrank unter dem Riss. Viel hat sich seither nicht mehr getan. Der Riss breitet sich einfach immer nur ein kleines bisschen weiter aus. Eben habe ich wieder eine neue feine Verästelung entdeckt und dabei "Ach, interessant!" gedacht.
Samstag, 1. April 2006, 22:42, von drbierkrug | |comment | Siehe auch: Aus dem Leben