Backen im 21. Jahrhundert
Ein merkwürdiges Phänomen ist ja die wahnsinnige Ausbreitung der Schnellbäckereien. Hier in der Rhein-Main-Region sind es vor allem die beiden Filialisten „Ditsch“ und „Geppert“ (Letzterer altnernativ auch „die Brezialisten“ genannt), die durch die Fußgängerzone schreitende oder in den Bahnhof eilende Passanten mit frischen Backwaren versorgen. Angeboten werden hochwertige Kleinstmahlzeiten für unterwegs, die nicht zwangsläufig ein traditionelles Backerzeugnis sein müssen. So werden zum Beispiel nicht nur herkömmliche Brezeln oder Laugenbrötchen, sondern auch aufgemotzte Varianten derselben (mit Käse obendrauf oder Würstchen innendrin) angeboten. Soll es etwas mehr sein, gibt es nicht nur belegte Wecken aller Art, sondern auch Minipizzen, die im Extremfall sogar mit Spinatbelag die Gaumen der zufriedenen Kunden erfreuen.

Der Bedarf an solchen Schnellbäckereien scheint völlig unerschöpflich zu sein. Nur so lässt sich erklären, dass sie mittlerweile hinter jeder Ecke lauern. Und die Gesetze der Marktwirtschaft bringen es dabei mit sich, dass eine Schnellbäckerei selten alleine aufkreuzt. Der Konkurrenzkampf zwischen Ditsch und Geppert führt nämlich zu dem amüsanten Phänomen, dass die Neueröffnung einer Filiale vom jeweiligen Konkurrenten mit der umgehenden Eröffnung eines eigenen Geschäfts auf der anderen Straßenseite beantwortet wird. So hat der Kunde in der Fußgängerzone immer die freie Wahl zwischen einem der beiden Anbieter. Zweifelhaft erscheint mir dabei jedoch immer mehr, ob man als Fußgänger überhaupt noch eine freie Entscheidung für oder gegen den Kauf an sich treffen kann. Die zunehmend von Bäckereiduft geschwängerte Innenstadtluft benebelt nämlich die Sinne eines jeden Fußgängers und wirkt ausgesprochen werbewirksam. Mehr als einmal habe ich mich schon dabei ertappt, wie ich mich völlig willenlos in eine Schnellbäckereischlange einreihte – nur aufgrund des anziehenden Duftes frischer Backwaren.

Wenn ich übrigens tatsächlich dem Charme des eiligen Steh- bzw. Laufimbisses erliege, kaufe ich in der Regel bei den Brezialisten von Geppert ein. Nicht weil es dort besser schmecken würde (diese Kategorien eröffnen sich im Hinblick auf die angebotenen Produkte nicht), sondern weil Geppert nicht so erfolgreich wie Ditsch ist. Die Backhüttchen Gepperts sind viel heruntergekommener und ziehen weniger Kunden an. So umtreibt mich beständig die Sorge, dass Geppert irgendwann einmal Pleite machen oder von Ditsch gekauft werden könnte. Die Auswirkungen für das empfindliche Ökosystem Fußgängerzone wären fatal, denn die Zahl der Schnellbäckereien würde rapide abnehmen. Ich kann mir mittlerweile kaum noch ausmahlen, was das für das Stadtbild und vor allem den Stadtduft bedeuten würde. Und versuche der Gefahr deshalb durch kundschaftliche Treue zu Geppert entgegenzuwirken.

Bisweilen muss ich deshalb einige unangenehme Folgen auf mich nehmen: Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein Brezialist, der seinen Dienst im Brezelkrieg in einem Stand am Wiesbadener Bahnhof absolvierte. Skurril könnte man ihn nennen, wenn man nicht allzu beleidigend sein will: Er hatte ein verquollenes, von einer imposanten roten Nase beherrschtes Gesicht und eine gigantische Wampe, verstand kaum ein Wort, das man an ihn richtete, ließ sich davon aber nicht beirren und bediente einen einfach nach Gefühl respektive Gutdünken. Bat man um eine Apfelsaftschorle und ein Käsebrötchen, bekam man oft genug zwei Brezeln in die Hand gedrückt, die man nur mit ausschweifender Gestik ablehnen und nur mit noch ausschweifenderer Gestik in die eigentlich gewünschten Backerzeugnisse umtauschen konnte. Erschwerend kam hinzu, dass er ganz offensichtlich noch nie von Hygienebestimmungen gehört hatte: So dachte er sich nichts dabei, in seinem Backbüdchen zu rauchen oder die Backwaren mit den bloßen Wurstfingern (hessisch: „Woschtfingä“) anzufassen, anstatt die elegante Greifzange zu verwenden. Vor allem Letzteres konnte einem, man vergesse seine imposante Gestalt nicht, gewaltig den Appetit verderben. Es dauerte natürlich nicht lange, bis der Stand bedeutend an Kundschaft verlor. Ich fand das ausgesprochen schade, denn es war mir inzwischen ein großes Vergnügen geworden, aus der Ferne verzweifelt mit den Armen herumfuchtelnden Kunden zuzuschauen, die, wenn sie denn endlich zufriedenstellend bedient worden waren, mit einem Kopfschütteln den Ort des Geschehens verließen oder, was tatsächlich vorkam, in einem plötzlichen Anfall von Ekel das erstandene Nahrungsmittel sogleich wegwarfen.

Fast ein ganzes Jahr arbeitete dieser etwas andere Brezialist tatsächlich in der Bude am Bahnhof. Danach sah ich ihn – leider – nie wieder. Meinen im Alltag leider unterbeanspruchten Lachmuskeln hat das geschadet, mein Appetit auf Schnellbackwaren ist seitdem aber wieder erstaunlich gestiegen.
Samstag, 14. Januar 2006, 16:23, von drbierkrug | |comment | Siehe auch: Aus der Welt