Nichtstun.
Jürgen Kühn war ein ungewöhnlicher Zeitgenosse. Denn sein eigenes Wohlergehen war ihm ziemlich egal. Es war ihm einfach zuviel Mühe, sich um sein persönliches Fortkommen zu bemühen. Das äußerte sich zum Beispiel darin, dass er lieber zu Hause vor dem Fernseher saß als sich mit anderen Menschen zu treffen. Und dass er deshalb auch keine Frau oder Freundin hatte. Zwar hatte er das schon ausprobiert, aber es war ihm zu anstrengend gewesen.

Seien Sie jetzt nicht vorschnell in Ihren Schlüssen, lieber Leser, und verurteilen sie Jürgen Kühn nicht als egozentrisch. Sein Lebenswandel war im Gegenteil auf bizarre Weise ausgesprochen altruistisch. Denn Jürgen Kühn hätte ein nicht unbescheidenes Vermögen anhäufen können (mit seiner Arbeit als Notar verdiente er recht gut), wenn er denn gewollt hätte. Doch er strebte überhaupt nicht nach Reichtümern und hatte es sich über die Jahre zur Angewohnheit gemacht, seine Steuererklärung auf den Satz „Nehmen Sie sich, soviel Sie wollen.“ zu vereinfachen. Zuletzt ergänzte er keck: „Aber bitte nicht so viel, wie Sie brauchen.“ Mehr Mühe wollte er sich partout nicht machen. Was ihm dabei einfach nicht klar wurde, war, dass sein Verhalten natürlich nur noch mehr Mühe nach sich zog. Denn das Finanzamt hielt seine Erklärung immer für einen Scherz und machte ihm die Hölle heiß, bis er schließlich doch den bürokratischen Pflichten nachkam. Und weniger Steuern zahlte, als er zu zahlen bereit gewesen war.

Daran sehen Sie schon, lieber Leser, dass Jürgen Kühn jegliche vorausschauende Lebensplanung fremd war. Die Maxime seines Handelns war stets der möglichst rasche möglichst geringe Arbeitsaufwand. Davon kündet auch folgende Episode:

Es war irgendwann letzten März, da schaffte sich Jürgen Kühn eine Waschmaschine an. Eines dieser superneuen, supereinfachen Geräte, die auch noch dem dümmsten Hausmann das Wäschewaschen ermöglichen sollten. Freiwillig geschah diese Anschaffung freilich nicht, vielmehr hatte der Waschsalon unter seiner Wohnung, der damals ganz entscheidend zu seiner Entscheidung für diese Immobilie beigetragen hatte, plötzlich geschlossen.

Jürgen ließ die Waschmaschine in seinem Bad aufstellen. Als sich sein Kleiderschrank fast völlig geleert hatte, probierte er sie zum ersten Mal aus. In der Tat ließ sie sich recht einfach bedienen und schon nach kurzer Zeit hatte Jürgen das Waschprogramm in Gang gesetzt. Er war mit seiner Anschaffung zufrieden und setzte sich vor den Fernseher. Nach etwa einer halben Stunde hörte er ein merkwürdiges Brummen. Aber er hatte keine Lust nachzusehen. Mit der Zeit wurde das Brummen immer penetranter. Er machte den Fernseher lauter. Irgendwann konnte er es jedoch nicht mehr ignorieren. Als Quelle des Geräusches machte er natürlich seine neue Waschmaschine aus. Diese hatten keinen sauberen Stand auf dem Boden und vibrierte deshalb im Schleudergang den Badezimmerboden entlang. Jürgen war beruhigt, er hatte ein schwerwiegenderes Problem befürchtet, eines, dass ihm möglicherweise den Tag hätte versauen können. In der brummenden Waschmaschine sah er keine Gefahr und so kehrte er tatenlos aber gewissensberuhigt vor den Fernseher zurück. Bald schon beschwerten sich Nachbarn, doch Jürgen war nicht in der Stimmung, etwas zu unternehmen. Er ging davon aus, dass die Maschine schon irgendwann fertig sein würde. Unglücklicherweise hatte die Maschine jedoch einen Fehler in der Software. Sie schleuderte einfach immer weiter, mehrere Stunden lang. Jürgen unternahm nichts. Immerhin kam „Lenßen und Partner“.

An dieser Stelle, lieber Leser, verlassen uns leider die gesicherten Fakten und wir müssen auf Mutmaßungen zurückgreifen. Dem tatsächlichen Geschehen am nächsten kommt sicherlich der Bericht der Feuerwehr:

„[...] Die nicht sicher verankerte Maschine bewegte sich auf Grund der inneren Schwingungen auf die vordere Wand zu und stieß auf diese. Direkt hinter der Wand lagen zentrale Wasserleitungen. Das Metall der Leitungen wurde durch die Maschine in eine Schwingung versetzt, welche sich durch das ganze Haus verbreitete und das Fundament in Bewegung versetzte. Dadurch entstand der große Riss in der tragenden Wand. Der Effekt war dem eines leichten Erdbebens vergleichbar, woran einige Anwohner ja auch zuerst gedacht haben. Als Glück im Unglück ist zu bezeichnen, dass der Riss in der tragenden Wand eine wichtige Stromleitung unterbrach, so dass die Waschmaschine den Betrieb einstellte. [...] Der Besitzer der Waschmaschine zeigte sich bei unserem Eintreffen sehr überrascht und gab vor, nichts bemerkt zu haben. [...]“

Jürgen musste sich daraufhin eine neue Wohnung suchen und sah sich horrenden Schadenersatzforderungen gegenüber. Er überlegte schon, für dieses Jahr eine richtige Steuererklärung anzufertigen. Dazu kam es jedoch nicht mehr, weil er bereits zwei Wochen später in Folge starken Zahnschmerzes verstarb.
Sonntag, 4. Dezember 2005, 18:52, von drbierkrug | |comment | Siehe auch: Geschichten