Kratzstimme ist Joschkas Stimme
Es ist viertel vor zwölf, als ich auf dem sonnigen Wiesbadener Luisenplatz eintreffe, um einer Wahlkampfveranstaltung der Grünen beizuwohnen. Für zwölf Uhr hat sicher der Außenminister angekündigt, so dass ich nun noch eine Viertelstunde in den zweifelhaften Genuss einer Wahlkampfrede des Landtagsabgeordneten Tarek Al-Wazir komme. Ich verbringe die Zeit damit, mich auf dem gut gefüllten Platz umzusehen. Wäre doch gelacht, wenn ich nicht ein paar bekannte Gesichter ausmachen könnte. Tatsächlich erblicke ich zwei Lehrer meiner ehemaligen Schule, beide mit ihren Klassen im Schlepptau. Überhaupt, es sind unheimlich viele Schüler da. Und viele Kinderwagen und Fahrräder. Geraucht wird hier auch mehr als zum Beispiel bei der Kohlveranstaltung.

Plötzlich, mitten während Al-Wazirs oppositionellem Roland-Koch-Bashing, erscheint Joschka Fischer auf der Bühne. Ich kriege es zuerst gar nicht mit, weil ich geistig abgeschaltet hatte. Das Publikum applaudiert begeistert und auf einmal fangen auch die Glocken der nahegelegenen Kirche zu läuten an. Al-Wazir, dem man ansieht, dass er gerne noch länger gesprochen hätte, muss sich jetzt kurz fassen. Er meint abschließend, dass dort, wo die CDU reagiert, es „nicht besser“ gehe. Super, jetzt weiß ich, wen ich wählen muss. Dann verschwindet Al-Wazir zusammen mit dem örtlichen grünen Direktkandidaten von der Bühne. Fischer duldet wohl niemanden neben sich, außer den Personenschützern und den Tontechnikern.

Das Publikum wird nach Al-Wazirs durchaus einleuchtend erscheinender Oppositionsrede (schließlich befinden sich die Grünen hier auf Landesebene in der Opposition) nun Zeuge einer deutlich weniger einleuchtenden Oppositionsrede des Obergrünen Fischer. Eine gute Viertelstunde fegt der Außenminister nur über die steuer- und gesundheitspolitischen Ideen von CDU und FDP hinweg. Ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren, wie er es besser machen will. Bei den Steuern rühmt er sich nur des bereits geleisteten und wirft den anderen vor, selbst die berühmten 16 Jahre lang das komplizierte Steuerrecht verursacht zu haben. Vom aktuellen Gesundheitswesen zeigt sich Fischer sogar fest überzeugt, hier gibt es für ihn erst recht nichts zu verändern. Über eventuell nötige „Reformen“ (ein Wort, das ich mich einfach nur noch in Anführungszeichen zu gebrauchen getraue) verliert er keine Worte. Wenn man ihm so zuhört, glaubt man, dass eigentlich alles wunderbar sei, es aber leider die verrückten Neokonservativen gebe, die mit ihren wahnsinnigen Plänen alles kaputt machen wollen und die es zu stoppen gelte.

Zum Glück kommt Fischer nach einiger Zeit endlich zu seiner Paradedisziplin, der Außenpolitik. Hier kann er eigene Erfolge vorzeigen und muss nur hin und wieder auf den politischen Gegner einprügeln. Inhaltlich hat er viel Vernünftiges zu sagen, zum Beispiel zur „Globalisierung der Konflikte“, zum nahen Osten und zum internationalen Terrorismus. Er will sich zur Lösung dieser Probleme nicht auf den militärisch-sicherheitspolitischen Ansatz beschränken, sondern mit Diplomatie und Entwicklungshilfe nachhelfen, was mir gut gefällt und auch allgemein mit Beifall bedacht wird. Zum Ende hat er dann seine rhetorisch stärkste Phase, begünstigt durch einen einzelnen (!) Zwischenrufer, der gegen die Einsätze im Kosovo und in Afghanistan wettert und vermutlich der Linkspartei anhängt. Fischer gibt den großen Demokraten, indem er den Mann fragt, was denn seine Meinung sei. Dann fällt es ihm natürlich leicht, dagegen zu argumentieren und noch leichter, die Zuhörer auf seine Seite zu ziehen. Zum Schluss bekundet er laut, dass er die Stimme des enttäuschten Zwischenrufers bei der Wahl nicht wolle.

Nach Fischers Aufruf ans Wahlvolk, die Zweitstimme – „zum Mitschreiben, die Zweitstimme“ (den Gag habe ich bis jetzt noch nicht verstanden) – den Grünen zu geben, gibt es viel Applaus und Gewinke. Natürlich ist Fischer wieder völlig durchgeschwitzt. Ich freue mich schon darauf, ihn in vier Jahren wieder zu hören, und bin schon sehr gespannt, ob seine Rede dann wieder so einen oppositionellen Touch haben wird.
Mittwoch, 14. September 2005, 18:23, von drbierkrug | |comment | Siehe auch: Aus dem Leben